Sonntag, 10. Juni 2012

Brief an einen jungen Leidenden

Mein junger Mann -- ich möchte dich so nennen, nicht weil du alt genug bist, nicht weil du alles als vernünftiger, mündiger Mensch behandelst, nicht weil du mit deinen 11 Jahren schon rauchst, sondern weil du in diesen Jahren deines Lebens viel zu tragen hast. Dein Anblick ist mir gleichzeitig erfrischend-- denn wer außer Kindern und Junggebliebenen hat solche ungewollte Offenheit? -- und furchtbar. Dein Gesicht scheint nicht mit dem hellen Licht eines jungen Abenteurers, deine natürlich dunkle Haut ist unnatürlich fahler geworden, deine Gesichtszüge auch kantiger, aber die Müdigkeit verleiht ihnen nur milde Kraftlosigkeit. Die Falten deiner Zukunft sind in deinem Gesicht zu lesen.

Wie viel von deiner Situation kannst du begreifen? Als ich ungefähr in deinem Alter war, war der Moment des Schocks sofort vorbei, schon weg, als ich zu mir gekommen war. Was ich zu tragen hatte, war rein Vergangenes, Überbleibsel einer Tragödie, die nicht meine war, das Nichtmehrpassieren, die Leere. Dadurch entstand vielleicht auch bei mir einige frühzeitige unsichtbare Narben, die aber nur ein Gespenst von Schmerzen ausstrahlen. Aber dein Unglück ist anschaulich. Und wäre es mir erlaubt, würde ich eine Aufnahme von dieser Anschaulichkeit machen. Deins aber, dein Leiden wandelt, lässt sich nur manchmal hervortreten. Es ergreift dich mit allen Fingern, indem du denkst, du kannst nichts tun, außer weglaufen, rauchen, schreien, klauen, um deine verfrühte Sucht zu hegen. Es droht dir, es wird deine Hände brechen. Nein, ich kann dich nicht tadeln. Denn auch indem du all dies begehst, gibst du auch anderen zu bedenken: Warum? und wie zu ändern? Und -- ja, der Mensch, von dem du klaust, freut sich über dein Besuch weiß auch vielleicht nichts von deiner Handlung, wäre auch bereit, dir alles zu geben, denn deine Anwesenheit ist ihm das Wichtige, deine Anerkennung, deine Hilfe und dein ihm ähnelndes Gesicht.

Und du bist eine Herausforderung, und ich soll mich bei dir bedanken. Du stehst uns gegenüber und wir wissen nicht, was wir tun sollen, einem Menschen überhaupt zu begegnen, gar zu helfen, wenn wir in diesem Zustand sind. Wie weiter zu verfahren?  Dein Gesicht sagt uns -- ihr könnt mir nicht helfen. Ihr seid kraftlos. Ihr seid nichts, dieser Macht der Tatsache gegenüber.

Und was sagt dir denn mein Gesicht, würde ich gern wissen, rein aus egoistischen Gründen. Ich würde gern wissen, ob das, was dein Gesicht sagt, mit deinem Sehen übereinstimmt. Auch ich verlange manchmal Validierung. Ich möchte denken, ich habe doch einen Einfluss auf dein Leben, auch wenn meine Worte von dir schon längst, seit grauer Vorzeit, verlacht, verhöhnt, verspeit sind.

Mein junger Mann, sagt die tatsächlich noch relativ junge Dame, was könnte ich tun? Möchtest du weiter so verfahren? Ist es schon zu spät, so früh?

Keine Kommentare: