4. Juli
Meine ganze Untersuchung ist doch auch eine selbstbezogene, psychologische... Ist nicht jede Untersuchung im Grunde genommen nur eine verschobene Selbstuntersuchung? A vanity project?
Irgendwie ist die Hitze nicht so schlimm, vielleicht, weil ich mir eine Hölle vorgestellt habe, vielleicht, weil ich schlimmere Hitzewellen erlebt habe und ein leichtes Gefühl vom Stolz beibehalte? 41 Grad war in meiner Kindheit gar nicht außergewöhnlich! (Ich gebe zu: gegen den Sommer hatte ich immer einen unversöhnlichen Hass gehegt!) – nur in den Bächen unter den Bäumen, in den Teichen gab es eine kühle Linderung -- das klingt geradezu idyllisch, nicht?
Nun hier. In den Morgenschatten wieder vor dieser ernsthaft dastehenden Kirche weht eine herrlich leichte Brise mir zu, und ich genieße das Ganze – ja, doch! Trotz der Hitze, vielleicht auch wegen der Hitze.
Aber ich kann nicht erklären, warum in dieser Stunde der Text, den ich angeblich untersuche, auf mich so wirkt. Stellen von einer melancholischen, aber nicht pathetischen – zwar nicht weit davon entfernt – Stimmung, sie sind voll, übervoll von einer zarten Schönheit und stillem Trotz. Elegisch, aber nicht elend, nicht verzweifelt. Lorenz Jäger hat einmal darüber geschrieben: "Die Gestalten scheinen einen Silberblick aufzuschlagen; bezaubernd, irritierend, etwas weicher, psychologischer, etwas geheimnisvoller, bezirzender."
Vielleicht liegt es an den Ort, an die Ecken, wo ich mich befinde.
Cafe.
Bibliothek.
Balkon.
Bahnhof.
Ach, der Mann im Bahnhof. Es war vor genau einer Woche. Der ganze Vorfall war mir zutiefst unheimlich. Kann es sein, dass diese ganzen ästhetizistischen Briefe und Erzählungen und Aufsätze die ich lese mich für so etwas sensibilisiert haben?
Es war feuchtwarm, wie einer von diesen Tagen letztes Jahr in Berlin. Als ich die Treppe vom Bahnsteig herabstieg, mußte ich mich an diese schwüle Luft — immer verschleiert die Schwüle etwas – in Berlin erinnern.
Eine Angst: Werde ich wieder beklaut?
Ich ginge durch die Flur, die zur Wartehalle fuhr. Die ganze Zeit (sie dauerte ja nicht lang) dachte ich an dieses komische Vorgefühl von damals. Ich ging die andere Treppe zur Wartehalle hinauf und vernahm einen Krach. In dem Augenblick glaube ich: ich weiß was dieser Krach bedeutet. Ich kenne ihn aus der Kindheit, in der Nacht, während ich schlief und doch nicht schlief. Mein Herz fing an, heftig zu pochen. Als ich oben war, sah ich zuerst nur das Blut – und dann den Mann auf dem Boden. Rot. Blut sieht man ja, aber kaum so viel auf einmal, und es floss vom Kopf und vom Mund, es floss schnell. Die Frau neben ihm hielt ihm die Zunge zur Seite.
Manche Gedanken stiegen aus der Erinnerung hervor. Gedanken über epileptische Anfälle, über Dostojewskij, über einen ehemaligen Freund, über den Anfang vom Mann ohne Eigenschaften.
Mir fehlt die Statistik.
Und manche sind tatsächlich einfach vorbeigelaufen, haben gar nichts bemerkt, gar nichts gesehen oder gehört. Smartphones. Kopfhörer. Sie waren beschäftigt.
Minutenlang pochte mir das Herz. Ihm wird es gut gehen, sagte ich mir leise. Aber wie kann es einem gut gehen, wenn so viel Rot sich zu einem kleinen Teich auf dem Boten formt?
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